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Ein Klagelied der Liebe

In Zeiten einer aufwendig geführten Genderdebatte wird sie oft um eine Einschätzung gebeten: Luise F. Pusch. Die Doyenne der feministischen Sprachkritik ist bekannt für ihren messerscharfen Verstand. Mit dem Memoir Sonja aus früheren Jahren zeigte sie ersmals ihre verletzliche, zweifelnde Seite.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Alles begann mit einem Spiegelei. Im Sommer 1965 bereitet sich Sonja in der Küche eines Hamburger Studentenwohnheims einen nächtlichen Snack zu. „Da saß sie nun mit ihrem Spiegelei, und ich ging hin und guckte mir das an. Damals siezte man sich noch unter Studenten. Ich war schüchtern und neugierig, Sonja bestimmt auch“, berichtet die Ich-Erzählerin
Judith Offenbach. Dieser Name steht auch auf dem Cover der Originalausgabe des Romans aus dem Jahr 1981. Doch eigentlich heißt die Autorin gar nicht so. Und sie würde heute auch nicht mehr „Studenten“ schreiben, sondern „Studentinnen*“. Luise F. Pusch heißt die Autorin des Romans nämlich eigentlich. Sie ist Mitbegründerin der feministischen Sprachkritik und dass der Genderstern hinter dem generischen Femininum (Studentinnen*) steht, und nicht in der Mitte des Wortes, ist ihr besonders wichtig. Denn so bleibt das Femininum erhalten und wird nicht durch einen Stern von der männlichen Form getrennt.

 

Ein Denkmal


Das Memoir Sonja ist ihr persönlichstes Buch, sie veröffentlichte es jedoch nicht unter ihrem richtigen Namen, da sie damals noch nicht ihr Outing als lesbische Frau hatte. Der Roman ist ein Klagelied, ein Denkmal, denn Sonja hat sich 1976 mit ihrem Rollstuhl in die Elbe gestürzt. Sieben Jahre lang sind sie ein Paar gewesen. Zusammengefunden haben sie eineinhalb Jahre nach dem Spiegelei-Rendezvous über die Violinkonzerte Bachs.

 

Was dann folgte, war eine Zeit der Höhen und Tiefen, durchsäumt von Trennungen und Affären, aber auch getragen von tiefster Nähe und Zuneigung. Sonjas Querschnittslähmung, die sie wegen eines Selbstmordversuchs mit 19 Jahren davontrug, bestimmt das gesamte Dasein des jungen Paares – bei der Wohnungssuche, im Alltag, im Urlaub. Und dann ist da noch die „unerträgliche Schwierigkeit des Lesbischseins“. Es gab zwar Bücher über lesbische Frauen, aber kaum welche, die sie selbst geschrieben haben. Nun sollte eine Insiderin berichten.

 

Selbstzweifel und Schuldgefühle


Nach Sonjas Tod, Pusch war damals 32 Jahre alt, begann sie mit dem Schreiben dieses autobiografischen Romans. Dafür
brauchte sie vier Jahre, sie macht immer wieder längere Pausen zwischen den tagebuchähnlichen Einträgen, denn es fällt ihr schwer, die letzten gemeinsamen Jahre wiederzubeleben. Sonja betrank sich regelmäßig, wütete und schrie. Sie litt, dass ihre Partnerin beruflich Fuß fasste und machte sie damit empfänglich für die schützenden Arme einer anderen.

 

Die Erzählerin macht keinen Hehl aus ihren Fremdgängen und ihrer jahrelangen Psychoanalyse. Sie lässt keinen Winkel ihrer
Seele unbeleuchtet und erzählt von Selbstzweifeln, ihrem Phlegma, den Schuldgefühlen. Das überrascht, denn die öffentliche Person Luise F. Pusch ist bekannt für ihre Schlagfertigkeit, sie gilt als unerschrockene Satirikerin, die Linguisten, die arrogant über die feministische Sprachkritik richten, selbstbewusst in ihre Schranken weist.

1998 veröffentlichte sie schließlich die Neuauflage von Sonja unter ihrem Klarnamen und bekannte sich damit öffentlich zu ihrem Lesbischsein. Während der Coronapandemie schrieb sie dann eine weitere autobiografische Aufarbeitung. Gegen das Schweigen umfasst die Zeit, bevor Luise Sonja kennenlernte. „Wir müssen uns zu Wort melden und sichtbar sein“, schreibt sie darin, „damit künftigen Generationen von Lesben und Schwulen die Tortur erspart bleibt und sie als gleichwertige Menschen in unserer Gesellschaft aufwachsen können.“

 

Luise F. Pusch

Sonja – Eine Melancholie für Fortgeschrittene
Suhrkamp, 392 Seiten, 16 Euro

Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (03_2023) veröffentlicht.

 

Luise F. Pusch

Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend
Aviva Verlag, 272 Seiten, 22 Euro


Luise F. Pusch ist habilitierte Sprachwissenschaftlerin, Frauenbiografieforscherin und gilt als Mitbegründerin der feministischen Linguistik in Deutschland. Sie wurde 1944 in Gütersloh geboren und hat mit Das Deutsche als Männersprache 1984 das bestverkaufte sprachwissenschaftliche Werk der Nachkriegsgeschichte geschrieben. Das Memoir Sonja erschien 1981 unter dem Pseudonym „Judith Offenbach“. 2023 veröffentlichte Pusch ihre Autobiografie Gegen das Schweigen. Meine etwas andere Kindheit und Jugend.

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