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Das Drehbuch der Liebe

Lori Gottlieb hilft gern anderen Menschen. Die 55-Jährige ist Psychotherapeutin. Doch nach einer verletzenden Trennung braucht sie selbst eine Therapie – und schreibt einen Bestseller darüber, wie es ihr gelang, das dunkle Liebeskummertal zu durchschreiten.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Wenn jemand Lori Gottlieb fragt, was sie beruflich mache, sagt sie gern: „I am an editor“. Also: „Ich bin Lektorin“. Doch eigentlich ist sie Psychotherapeutin. Im Grunde kann eine Therapie als ein sensibles Lektorat der Geschichten, die wir über uns selbst und unser Leben erzählen, angesehen werden. So zumindest interpretiert Lori Gottlieb ihren Job als Therapeutin. Bis sie ihre Privatpraxis in Los Angeles eröffnen kann und sich in ihrer Rolle als Therapeutin eingerichtet hat, ist jedoch ein kleiner Weg zu gehen. Lori Gottlieb startet ihre Karriere als Drehbuchautorin für die Fernsehserien Emergency Room und Friends, gibt den Job jedoch auf, um mit Ende zwanzig Medizin zu studieren.

 

Ein Artikel geht viral

 

Parallel schreibt sie als freie Journalistin hunderte von Titelgeschichten und Kommentare für renommierte Magazine wie die New York Times oder The Atlantic. Nach fünf Jahren bricht sie das Studium ab, widmet sich ausschließlich dem Schreiben – und bekommt durch künstliche Befruchtung alleinstehend ein Kind. Eines wird ihr in dieser turbulenten Zeit klar: Sie möchte mehr als nur die Geschichten von Menschen erzählen, sie möchte diese auch verändern. Sie absolviert ein Aufbaustudium zur klinischen Psychotherapeutin und möchte in ihrer Privatpraxis die Hilfesuchenden befähigen, ihre Geschichte neu zu schreiben. Zeitgleich veröffentlicht sie im Sommer 2011 eine Titelgeschichte für The Atlantic, die sie berühmt machen wird: Wie Sie Ihr Kind zu einem klaren Fall für die Therapie machen. Die Medien reißen sich um sie, ein Verlag bietet ihr eine Traumgage für einen Erziehungsratgeber an, den sie schreiben soll. Sie lehnt ab.

 

Warum sie dies tut und wie es danach für sie weiter geht, hat sie in einer Art fiktiven Autobiografie verdichtet: Vielleicht solltest du mal mit jemanden darüber reden. Sie erschien acht Jahre nach dem Atlantic-Hit, also im April 2019, in den USA und verkaufte sich weltweit bislang mehr als eine Million Mal. Ein halbes Jahr später hält Gottliebs ihren erfolgreichen
TED-Talk How changing your story can change your life.

 

Eine verletzliche und kompetente Erzählerin

 

Lori Gottlieb möchte mit ihrer Arbeit und ihrer Medienpräsenz die Therapiesituation für ihr Publikum erlebbar machen, ähnlich wie es der US-amerikanische Psychotherapeut Irvin D. Yalom mit seinem Ansatz der existenziellen Psychotherapie und seinen zahlreichen Romanen vor ihr tat. Gottlieb zeigt sich als verletzliche und gleichermaßen kompetente Erzählerin: Sie bietet der Unzuverlässigkeit der Geschichten, die Menschen über sich selbst erzählen die Stirn. Das gelingt ihr durch einen interessanten Kniff. Sie berichtet von vier Fällen aus ihrer Praxis, wir sitzen quasi live mit im Therapieraum. Darüber hinaus berichtet sie noch von einer fünften Patientin: sich selbst.

 

Ihr Lebensgefährte hat sie verlassen und plötzlich brechen alle inneren – und später auch äußeren – Dämme. Sie sucht sich Hilfe bei einem Kollegen. Dadurch erleben wir während der Lektüre die Therapiesituation aus der professionellen Perspektive der Therapeutin und aus der verletzlichen Sicht der Patientin, die sich erst einmal durch stundenlanges Weinen und starke Abwehrmechanismen kämpfen muss, bis sie sich ihrem Therapeuten öffnet. Wir fühlen: Auch sie ist Mensch, auch sie fühlt Verzweiflung, und erleben hautnah mit, wie sie sich dieser Aufgabe stellt und die Liebeskummerauswirkungen als das entlarvt, was sie sind: Ablenkungsmanöver.

 

Diese Autobiografie handelt also nicht von der Zuneigung für einen anderen Menschen, sondern von der Liebe zu sich selbst. Man könnte diese Liebe auch Selbstmitgefühl nennen. Und davon können wir nicht genug haben.

 

Lori Gottlieb

Vielleicht solltest du mal mit jemandem darüber reden.

Eine Therapeutin, ihr eigener Therapeut und unsere innersten Geheimnisse
Übersetzt von Elisabeth Liebl
Hanserblau Hardcover, 528 Seiten, 25 Euro

Goldmann Taschenbuch, 592 Seiten, 16 Euro

Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (01_2023) veröffentlicht.


Lori Gottlieb, geboren 1966, ist Psychotherapeutin und Autorin und landete 2019 mit Maybe You Should Talk To Someone: A Therapist, Her Therapist, and Our Lives Revealed einen Bestseller. Auch hierzulande wurde die Übersetzung Vielleicht solltest du mal mit jemanden darüber reden (2020) im Feuilleton gefeiert. Gottlieb ist Co-Host des Podcasts Dear Therapist und Autorin der gleichnamigen Kolumne in der US Zeitschrift The Atlantic. Sie lebt in Kalifornien. Im Sommer 2022 erschien das Arbeitsbuch zum Bestseller.

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