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Die revolutionäre Kraft der Liebe

In Die vierzig Geheimnisse der Liebe erzählt Elif Shafak von der magischen Liebe zwischen dem berühmten Mystiker Rumi und dessen ermordetem Mentor Schams.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Als Elif Shafaks Roman Ask 2009 in der Türkei erschien, wurden einige Männer nervös: Sie wollten den Roman lesen, jedoch nicht mit dem pinkfarbenen Cover gesehen werden. Sie fürchteten um ihre Männlichkeit. In zahlreichen Zuschriften wurde die britisch-türkische Autorin gebeten, die Farbe doch bitte ändern zu lassen. Ihr Verlag druckte das Buch schließlich mit einem weiß-grauen Einband. Diese Anekdote erzählt Elif Shafak 2013 in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Es ist das Jahr, in dem die deutsche Übersetzung von Ask mit dem Titel Die vierzig Geheimnisse der Liebe erschienen war.

 

Unerschrocken und empathisch

 

Die Bestsellerautorin ist eine gefragte Frau: In TED-Talks spricht sie über die Politik der Fiktion oder die revolutionäre Kraft
der Vielstimmigkeit. Auf Twitter folgen ihr 1,6 Millionen Menschen, auf Instagram sind es 215 000. Bislang hat sie 19 Bücher veröffentlicht, die in der Türkei geschätzt und weitergereicht werden – sie wird aber auch angefeindet und juristisch verfolgt, weil sie über Tabus schreibt. Shafak ist bekannt für ihre Unerschrockenheit und Empathie. Sie will jenen eine Stimme geben, die nicht gehört werden und deswegen begegnet uns in ihren zahlreichen Interviews ein Satz immer wieder: Die Türkei sei ein Land der kollektiven Amnesie. Im Sternstunde-Philosophie-Gespräch sagt sie: „Unsere Verbindung zur Vergangenheit ist voller Brüche und Lücken, welche durch ultranationalistische und islamistische Interpretationen der Vergangenheit mit ihrer Beschwörung eines glorreichen Imperiums, eines goldenen Zeitalters, gefüllt werden.“ Mit Literatur lässt sich dem Vergessen die Stirn bieten. Denn Erinnerungen, sagt Shafak, seien ein wichtiger Aspekt von Heilung.

 

Der Roman Die vierzig Geheimnisse der Liebe ist solch eine Erinnerungsleistung. Er handelt vom Sufismus, einer spirituellen Auslegung des Islams, deren Orden nach der Gründung der türkischen Republik im Jahr 1925 vom Präsidenten Kemal Atatürk verboten wurden. Seither war es schwierig über diese, wie Shafak es nennt, „atmende Philosophie“ zu sprechen. Also erzählt sie in ihrem Roman von der innigen Beziehung zwischen dem islamischen Mystiker Rumi und seinem Gefährten, dem Derwisch Schams-e Tabrizi. Seine berühmtesten Poeme schrieb Rumi der Überlieferung nach im tiefen Schmerz um Schams. Beide haben in ihrer kurzen gemeinsamen Zeit gegen die engen Vorstellungen angekämpft, wie der Islam zu leben sei. Schams bezahlte dies mit seinem Leben.

 

Mise en abyme

 

Shafak platziert diese Geschichte als Roman im Roman, denn es gibt noch eine zweite Liebesgeschichte in Die vierzig Geheimnisse der Liebe. Sie dreht sich um die 40-jährige amerikanische Hausfrau Ella Rubinstein, die als Gutachterin bei einer Literaturagentur anheuert. Das erste Manuskript, das sie lesen soll, heißt Süße Blasphemie und handelt von Rumi und
Schams. Der Autor ist Aziz Zahara, ein rastloser Vagabund, dem Ella aus Neugier eine E-Mail schreibt. „Süße Blasphemie“ bekommen wir im Verlauf der Geschichte um Ella komplett zu lesen und spielt im Jahr 1242. Die Erzählebene der Gegenwart, also Ellas Erleben und der Schriftverkehr zwischen ihr und Aziz, ereignet sich im Jahr 2008.

 

Süße Blasphemie wird multiperspektivisch erzählt, so dass der Text zu einem magischen Meer aus Spiritualität, Liebe und persönlicher Freiheit wird – er verändert Ellas Blick auf das Leben und eröffnet zugleich einen Raum für individuelle Antworten auf große Fragen. Antworten, die im Kopf der Lesenden entstehen. Denn Elif Shafak wertet nicht, sie zeigt. Und das Gute an Shafak-Geschichten ist: Sie funktionieren auch ohne eine politische Lesart. Wir können uns also auch einfach von den
Wogen dieser schillernden Erzählungen tragen lassen und dabei in der allumfassenden Kraft der Liebe versinken.

 

 

Elif Shafak Die vierzig Geheimnisse der Liebe
Übersetzt von Michaela Grabinger

Kein & Aber

512 Seiten, 15 Euro

Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (05_2022) veröffentlicht.


Elif Shafak (c) Ferhat Elik
Elif Shafak (c) Ferhat Elik

 

Elif Shafak geboren 1971, ist promovierte Politikwissenschaftlerin und Bestsellerautorin. Sie wurde von der BBC zu einer der 100 einflussreichsten Frauen gewählt. Sie lebt in London, schreibt auf Türkisch und Englisch und hat bislang 19 Bücher veröffentlicht, darunter 12 Romane. Die vierzig Geheimnisse der Liebe erschien 2009 in der Türkei, vier Jahre später in Deutschland. Shafaks jüngster Roman heißt Das Flüstern der Feigenbäume (2021).

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