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Bekenntnisse einer Stalkerin

Die Londoner Autorin Olivia Sudjic hat 2017 mit Sympathie einen Roman vorgelegt, der uns vor Augen führt, was
die Möglichkeiten des digitalen Verfolgens mit unserer Seele und unserer Liebesfähigkeit anrichten.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Heutzutage muss eine Trennung häufig zweimal stattfinden: einmal offline und einmal online. Zumindest viele aus der jüngeren Generation führen auch in den sozialen Medien eine Liaison, perfekt zurechtgeschnitten für die Blicke der Öffentlichkeit. Auf Instagram, Facebook und Co. folgen sich Paare gegenseitig, posten Fotos von ihren Unternehmungen, dokumentieren das ideale Abbild ihrer Selbst. Und so muss auch mit dieser offenkundigen Verbindung irgendwie umgegangen werden, wenn in der Realität die Liebe versiegt ist.

 

Es gibt wohl kaum einen Menschen, der diesen Umstand in all seiner seelischen Marter und Trostlosigkeit besser in Worte gefasst hat, als Olivia Sudjic. Sie veröffentlichte 2017 ihr Debüt Sympathie – die Geschichte der 23-jährigen Alice Hare, die sich in ein Foto auf Instagram verliebt. Es ist das Porträt der japanischen Schriftstellerin Mizuko Himura.

 

Gefangen im Whiteout

 

Der Roman beginnt mit ihrer Trennung. Mizuko ist abgetaucht, nicht mehr online. Als klägliche Selbstermächtigungsgeste drückt Alice auf „Nicht mehr folgen“. Das Instragram-Profil wird zur weißen Wand mit einem Vorhängeschloss. „Dieses Whiteout war noch verwirrender als ihre körperliche Abwesenheit“, bekennt Alice ängstlich. „Kaum etwas deutete darauf hin, dass Zeit verging. Keine Neuigkeiten von ihren Vormittagen oder Mahlzeiten, keine gefilterten Sonnenuntergänge oder Sternenhimmel. Während sich Dunkelheit über meine Welt legte, quälte mich das unablässige, klinisch weiße Leuchten aus ihrer. Immer wieder stieß ich mit dem Zeigefinger gegen die Mauer, doch ihr angespannter, trotziger kleiner Mund, den ich gerade so durch das Bullauge ihres Profilfotos sehen konnte, erwiderte meine symbolische Geste: Du kannst mich mal.“ Früher, wenn sie die Nächte getrennt voneinander verbrachten, hatte Alice die Nachrichten im Chat offengelassen, um zu beobachten, wie Mizukos Status zwischen on- und offline wechselte. Immer wieder tippte sie auf den Bildschirm, damit er nicht dunkel wurde.

 

Obsession in der digitalen Welt

 

Sympathie ist das Bekenntnis einer Stalkerin. Die britische Presse war begeistert, hierzulande handelte Die Zeit Olivia Sudjic als Stimme ihrer Generation – denn sie hat auf unnachahmliche Weise zu Papier gebracht, wie das Internet unsere Psyche, unsere Liebe, unser Zusammensein und Kennenlernen verändert. Olivia Sudjic wurde 1988 geboren und ist damit quasi so alt wie das Internet. Ihre Erzählweise spiegelt, wie wir uns darin bewegen: sprunghaft, immer tiefer einsteigend, auch in Dinge, nach denen wir eigentlich nicht gesucht haben oder die uns nichts angehen.

 

Nach ihrem Debüterfolg wird Olivia Sudjic nach Brüssel eingeladen, um dort für zwei Monate an ihrem zweiten Roman zu schreiben. Doch Selbstzweifel quälen sie. Aus dieser Krise entsteht 2018 der Essay Exposure, in dem sie über ihre anxiety, das Unbehagen, das sie befallen hat, schreibend nachdenkt. Sie bezieht sich auf eine ständige Unruhe, die Rastlosigkeit einer ganzen Generation, die sie unablässig in Bereitschaft hält. Das Smartphone wird zu unserem verlängerten Ich. Im Roman gar zu einer eigenen Figur, mit der die Protagonistinnen dauerinteragieren.

 

Alice inszeniert ein Kennenlernen mit Mizuko, das diese für zufällig hält. Es entwickelt sich eine schaurige Beziehung. Beide Frauen versuchen taumelnd, irgendwie da durchzukommen. Man weiß beim Lesen nie genau, wer von beiden wen manipuliert und so entwickelt sich diese Obsessionsgeschichte zu einem Psychothriller. Hier materialisiert sich die dunkle Seite unseres Zeitgeistes zu einem Roman, der so abschreckend von der Liebe in der digitalen Welt erzählt, dass wir das Smartphone erschöpft aus der Hand gleiten lassen. Damit diese endlich wieder frei ist für eine tatsächliche Berührung.

 

 

Olivia Sudjic Sympathie

Kein & Aber

Übersetzt von Anna-Christin Kramer

496 Seiten, 24 Euro

Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (01_2022) veröffentlicht.


Olivia Sudjic
Olivia Sudjic (c) Collin Thomas

 

 

Die preisgekrönte Londoner Autorin Olivia Sudjic studierte Englische Literaturwissenschaft an der University of Cambridge und debütierte 2017 mit ihrem Roman Sympathie. Sie schreibt außerdem für den Observer und die Times. Nach ihrem Debüterfolg veröffentlichte sie den biografischen Essay Exposure, in dem sie ihre Gefühle verarbeitet, die der Erfolg in ihr auslöste. Die deutsche Übersetzung erscheint im Frühjahr 2022 im August Verlag. Ihr zweiter Roman Asylum Road erschien 2021.

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