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Bis dass der Tod uns scheidet

Marilyn und Irvin Yalom waren 65 Jahre lang verheiratet, haben vier Kinder großgezogen und Regale mit Publikationen gefüllt. Ihre gemeinsame Reise endete 2019 mit Marilyns Tod. Unzertrennlich ist das Zeugnis über ihre letzten Monate als Ehepaar – und zugleich das Trauertagebuch eines der bekanntesten US-Therapeuten

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

 Es sind nur noch zwei Teebeutel übrig vom Earl Grey, den Marilyn jeden Morgen trinkt. Ihr Ehemann Irvin kauft Nachschub und steht vor der Frage: Wie viele Teebeutel soll er mitbringen? 20 sind in einer Packung. Marilyn hat jedoch nur noch wenige Tage zu leben. Sie ist 87 Jahre alt und schwer an Krebs erkrankt.

 

Irvin Yalom ist Psychoanalytiker, Bestsellerautor und einer der einflussreichsten Therapeuten in den USA. Er begründete die existenzielle Psychotherapie, ist ein Pionier der Gruppentherapie und löste mit seinen literarischen Lehrgeschichten Empörung in Fachkreisen aus. Er wollte nicht hinnehmen, dass ein Therapeut oder eine Analytikerin sich als weiße Wand gerieren, den Menschen, den sie behandeln also nur spiegeln. Irvin Yalom zeigt sich als Mensch, der mit genau denselben Themen hadert, wie seine Klientinnen und Patienten. Tod, Freiheit, Isolation, Sinnlosigkeit. Die unbewusste und bewusste Beschäftigung mit diesen Dingen macht unser aller Innerstes aus. 60-jährig beendete er seine Universitätskarriere und schrieb seinen ersten Roman „Und Nietzsche weinte“. Ein Weltbestseller.

 

Es begann mit Büchern und endete mit ihnen

 

Irvin Yalom hat jahrzehntelang Menschen therapiert, die tödlich erkrankt sind. Nun hat er selbst das Tal der Trauer betreten. Im November 2019 starb seine Frau Marilyn an einem Krebs der Plasmazellen. Marilyn war eine preisgekrönte promovierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Wegbereiterin im Bereich der Gender Studies. Sie war 14 Jahre alt, als sie Irvin Yalom in der Schule kennenlernte. 73 gemeinsame Jahre und unzählige Publikationen später hat sie einen letzten Wunsch: Sie möchte mit Irvin ein Buch schreiben. Ein Buch, in dem sie abwechselnd ihre Sicht auf das Leben, den Tod und ihre letzten gemeinsamen Wochen niederschreiben. Ein Ort für Fragen, Reflexion und Erinnerung, für Ängste und Unsicherheiten.

 

Irvin Yalom willigt ein und im Mai 2021 erschien hierzulande „Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben“. Die ersten Kapitel sind betitelt mit „Irv im April“, „Marilyn im Mai“, dann werden die Kapitelüberschriften bedrohlicher „Abschied von der Chemotherapie“, „Hospizbetreuung“, „Der Tod tritt ein“. Marilyns Zeilen sind ruhig, pragmatisch und klar. Irvin wehrt sich gegen den Gedanken an ihren baldigen Tod.

 

Aufzeichnungen eines Trauernden

 

Die letzten 90 der insgesamt 320 Seiten muss er allein bestreiten, was dieses Werk auch zu einem Trauertagebuch macht. Sein Leben als „eigenständiger, alleinstehender Erwachsener“ beginnt. Er beobachtet seine Trauer, kommentiert sie und sucht Trost in der allabendlichen Lektüre seiner Romane und Kurzgeschichten. In einem letzten Brief an Marilyn bekennt er, dass er nun verstanden habe, weshalb sie wollte, dass sie dieses Buch schrieben. Sie wusste, dass ihm die Arbeit daran nach ihrem Tod aufrechterhalten würde. Sie kümmert sich liebend um seine Seele – auch über ihren Tod hinaus.

 

Die Yaloms denken zwar im Buch laut über das Sterben nach, erzählen jedoch hauptsächlich aus ihrem Alltag. Irvin blickt zurück, sortiert, belebt sein Gedächtnis. Marilyn verabschiedet sich von ihren Kindern, Freundinnen und Wegbegleitern. Es ist damit ein persönliches Buch, ein Stück Erinnerung.

 

Irvins Gedächtnis ist lückenhaft, die Gedanken weniger verdichtet, als Fans es von ihm kennen. Sein fast 90-jähriger Geist scheint zur Ruhe gekommen und durchzogen von Dankbarkeit. Was ätherisch durch die Zeilen schwingt, kann ihm der Tod nicht nehmen: Marilyn und er haben ihre Liebe reuelos und in vollen Zügen ausgekostet. Doch Marilyn ging ohne ihn. Und so wagt man es kaum, das Buch auszulesen und damit den Witwer allein zurückzulassen.

 

Irvin D. Yalom und Marilyn Yalom Unzertrennlich. Über den Tod und das Leben

Btb

Übersetzt von Regina Kammerer

320 Seiten, 22 Euro

Das amerikanische Original ist 2021 erschienen.

Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (05_2021) veröffentlicht.


 Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er ist ein Pionier der existenziellen Psychotherapie. Weltweiten Ruhm erlangte der mittlerweile emeritierte Professor für Psychiatrie mit dem Roman „Und Nietzsche weinte“ (dt. 1994). Marilyn Yalom, 1932 geboren, war eine preisgekrönte Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin. Sie hat neben ihrer akademischen Karriere erfolgreiche Sachbücher veröffentlicht. Im November 2019 starb sie an einer Krebserkrankung.