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Der Mensch als Eintagsfliege

Es gibt Tage, von denen man sich wünscht, dass sie nicht angerechnet  werden. Doch die Gegenwart  schreitet voran. Die Zeit – niemand kann  sie aufhalten,  alle wollen mehr davon. Doch, wohin mit ihr, wenn man unendlich viel davon hat?

 

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz aus der Rubrik Wiederentdeckte Klassiker

 

Die exaltierte Schauspielern Regine fürchtet die Vergänglichkeit.  „Ich will kein Grashalm sein“, bekennt sie und gibt sich einer unerschöpflichen Selbstherrlichkeit hin. Sie wütet durch das Leben anderer und kann sich nur durch Zerstörung selbst fühlen: „Wenn Leute um mich her leben, lieben und glücklich sind, habe ich das Gefühl, dass sie an mir einen Mord begehen.“

 

Tag für Tag sieht die junge Frau im Hotelgarten einen Mann unbeteiligt in einem Liegestuhl ruhen. Sie beneidet ihn, er scheint keinen Kampf mit der Zeitlichkeit auszutragen: „Er hatte etwas Aufreizendes; sie hatte Lust, seine Ruhe zu stören und für ihn zu existieren.“

 

Eine alte Seele

 

Foscas Körper ist erst dreißig, seine Seele lebt jedoch schon seit über 650 Jahren. Regine kann es nicht fassen. Seine Unsterblichkeit könnte sie im Gedächtnis der Welt verewigen! Sie verlässt ihren Geliebten, beendet ihre Karriere, zerstört alle Dinge, die ihr etwas bedeuten und leitet mit dieser hysterischen Inszenierung einen Neuanfang ein. Dass dies in kompletter Abhängigkeit von Fosca geschieht, berührt den müden Helden kaum. Aber seine Gleichgültigkeit stört Regines Narzissmus. Alles, was sie sagt, hat er schon einmal gehört. Von wem?

 

Hier setzt die eigentliche Geschichte ein. Fosca beginnt zu erzählen und entfaltet in vier Teilen sechs Jahrhunderte Weltgeschichte; ein Weg voller Schlachten, Eroberungen und Umbrüche. Er kommt 1279 zur Welt und wird Fürst der italienischen Stadt Carmona. Ein Bettler bietet ihm ein Elixier an, das ewiges Leben verspricht. Fosca zögert nicht lange und triumphiert: „Nie wird meine Freude erlöschen.“

 

Frei und für alle Zeit allein

 

Jahrhunderte lang beflügelt von der Beherrschung der Welt, erkennt er das ewige Errichten und Zerstören schließlich als absurdes Tun. Egal, ob als Entdecker in Amerika, Berater im Kaiserreich Karl V., Wissenschaftler oder Revolutionär, es ist schlussendlich immer das selbe Streben und Scheitern. Nach 500 Jahren trifft er auf Marianne und alle Jahrhunderte, die er bis dahin durchlebt hatte, „starben am Rande dieses Augenblicks“. Als sie erfährt, dass er unsterblich ist, zerbricht sie fast daran. Sie hatte ihm ihr ganzes Leben geschenkt, während er sich nur „verliehen“ hatte. Sie stirbt und Fosca bemüht sich, das „Jetzt nicht entstehen zu lassen, damit die Vergangenheit weiterexistierte.“ Er lebte noch fünfzig Jahre „unter ihren Blicken“, zurückkommen aber würde sie nie. Fosca ist zwar frei, doch für alle Zeiten allein.

 

Im Feuer der Literaturkritik

 

Bei seiner Veröffentlichung erntete Beauvoirs verstörender Roman viele ablehnende Stimmen. Zu pessimistisch! Der entwicklungsscheue Charakter des Helden und die schematische Darstellung der überreizten Regine wurden häufig als Schwächen des Textes deklariert. Andere sehen in dem Protagonisten, der jeden Menschen zu einer Eintagsfliege macht, einen Fingerzeig auf Beauvoirs eigene biographische Situation. Durch die amerikanische Geliebte Sartres, Dolores Vanetti, soll sie ihre eigene Einmaligkeit bedroht gesehen haben.

 

Foscas Existenz als trostloses Einerlei färbt tatsächlich gefährlich auf die Lesenden ab. Doch das hindert nicht daran, eine wohltuende Botschaft aus der Lektüre mitzunehmen. Die beiden Hauptfiguren erleben im Extrem, was eigentlich in jedem Menschen wohnt: Das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn abzugewinnen und die Angst vor der eigenen Endlichkeit. Erst im Epilog ist Regine in der Lage, das Leben zu spüren, weil sie den Tod mittlerweile akzeptieren kann. Das gibt den zur Freiheit verdammten Leserinnen und Rezipienten das beruhigenden Gefühl, dass nur die Aussicht auf ein Ende Selbstverwirklichung möglich macht. Dies ist gewiss ein Roman von zeitloser Brisanz.

Wolfram Eilenberger Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)

 

Simone de Beauvoir Alle Menschen sind sterblich

Übersetzt von Eva Rechel-Mertens

Rowohlt Verlag

480 Seiten, 12 Euro

Erschienen im Jahr 1975.

Die Rezension wurde zuerst im Büchermagazin (4_2011) veröffentlicht und für die Onlineveröffentlichung leicht überarbeitet.