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Der Unberührbare

Lotta und Pikay sind in Schweden ein bekanntes Liebespaar. Grund dafür ist die spektakuläre Reise quer durch zwei Kontinente, die der Inder Pikay in den Siebzigerjahren teils mit dem Fahrrad bewältigt, um seine Frau wiederzusehen. Der schwedische Reiseschriftsteller Per J. Andersson schrieb ihre Geschichte auf und landete damit einen Bestseller.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Als der Inder Pikay das erste Mal auf seine Schwiegermutter trifft, nennt er sie versehentlich ein Schwein. Eigentlich wollte er nur in der für ihn exotischen Sprache sagen, dass es draußen schweinekalt sei. Das ist über 40 Jahre her und mittlerweile ist Schweden Pikays vertraute Heimat. Für ein gemeinsames Leben mit seiner Frau Lotta durchquert er 1977 Indien, die Wüsten Afghanistans und des Irans mit dem Fahrrad, da er sich ein Flugticket nicht leisten kann. Er schläft bei Bekannten oder unter freiem Himmel, wird mit dem Lastwagen mitgenommen und bekommt einen Flug von Pakistan nach Kabul und Zugtickets nach Wien und Schweden geschenkt.

 

Das Happy End ist bekannt, Lotta und Pikay sind heute immer noch glücklich verheiratet und haben zwei erwachsene Kinder. Per J. Andersson, Indienliebhaber und Reisejournalist, wurde auf sie aufmerksam und recherchierte sechs Jahre lang, um ihre Geschichte für eine Romanbiografie zu rekonstruieren. 2015 erschien Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um seine große Liebe wiederzufinden in Deutschland und wurde prompt ein Bestseller.

 

Die Last der Unberührbaren

 

Geboren wurde Pikay 1949 im indischen Bundesstaat Odisha. Seine Familie gehört den Dalits an, den Unberührbaren, die im Hinduismus als unrein gelten und kastenlos sind. Obwohl Indiens Verfassung 1950 festhielt, dass nun niemand mehr wegen des Kastensystems diskriminiert werden dürfe, sieht Pikays Realität anders aus. Wenn er sich als Kind dem Tempel des Dorfes nähert, wird er mit Steinen beworfen. In der Schule muss er draußen sitzen. Wird er versehentlich berührt, waschen sich die Kinder hastig im Fluss. Es quält ihn, ausgestoßen – anders – zu sein. Dank eines Stipendiums bekommt er einen Platz an einer Kunstschule in Neu-Delhi. Doch das Geld kommt nicht verlässlich an. Er wird obdachlos und hungert. Eines Tages bittet ein Tourist ihn um ein Porträt und bezahlt die Zeichnung mit ein paar Rupien. Fortan bietet Pikay seine Kunst unter dem Slogan „Zehn Minuten, zehn Rupien“ an und ist so talentiert, dass ihn selbst die Premierministerin Indira Gandhi zu sich bestellt.

 

Mit dem Rad auf dem Hippie Trail

 

Auch Lotta, eine junge Schwedin, die mit Gleichgesinnten in einem VW-Bus nach Indien gereist war, möchte porträtiert werden. Doch Pikay ist vor Aufregung nicht in der Lage, sie zu zeichnen und vereinbart ein Treffen mit ihr. Von diesem Tag an, im Jahr 1975, sind die beiden miteinander verbunden, erst zaghaft, freundschaftlich. Doch schon bald geben sie sich das Ja-Wort in Pikays Heimatdorf. Wenig später muss Lotta zurück nach Schweden, um ihre Ausbildung zu beenden. Die Sehnsucht quält Pikay und er beschließt, die Reise nach Schweden entlang des Hippie Trails mit dem Rad auf sich zu nehmen. „Hippie Trail“ bezeichnet die Reiserouten abenteuerlustiger Rucksackreisender, die sich in den Siebziger Jahren von Europa nach Asien aufmachen. Auch Pikay baut während seiner viermonatigen Reise auf deren stützende Gemeinschaft.

 

Der Journalist Andersson schafft es, die verworrenen Gesetzmäßigkeiten des Kastensystems, die Religion und Politik Indiens, Pikays intensive Gefühlswelt und die unzähligen skurrilen Zufallsbegegnungen für das Lesepublikum erfahrbar zu machen. Passagenweise rutscht er jedoch in eine allzu triviale Sprache ab, die Pikays leidvollen Erfahrungen nicht immer gerecht wird. Gleichzeitig schenkt diese sprachliche Einfachheit dem Protagonisten auch eine Aura der Arglosigkeit, die an Rudyard Kiplings Dschungeljungen Mogli erinnert. Und so lässt Pikays unverstellte Art und sein Vertrauen auf die große Liebe sicherlich viele unter uns an das Gute im Menschen glauben.

 

Per J. Andersson Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr um dort seine große Liebe wiederzufinden

Kiepenheuer & Witsch

Übersetzt von Susanne Dahmann

14,99 Euro, 336 Seiten

Erschienen im Jahr 2015

Die Kolumne ist zuerst im Büchermagazin (02_2021) veröffentlicht worden.

 


Per Andersson © Christopher Hunt
Per Andersson © Christopher Hunt

 

 

Per J. Andersson ist Reiseschriftsteller und Gründer des Reisemagazins Vagabond. Er wurde 1962 in Hallstahammar in der schwedischen Provinz geboren und hat Indien über 30 Mal bereist. Andersson schrieb mit seinem Debüt Vom Inder, der mit dem Fahrrad bis nach Schweden fuhr, um seine große Liebe wiederzufinden (dt. 2015) einen Bestseller. Zuletzt erschien von ihm im Sommer 2020 der Reiseroman Vom Schweden, der den Zug nahm und die Welt mit anderen Augen sah.