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Mikroskopische Selbsterforschung

Siri Hustvedt ist ein Literaturstar – eine  gefragte, aber auch manchmal als verkopft gescholtene amerikanische Denkerin und Bestsellerautorin. 2003 erlangte sie mit Was ich liebte den internationalen Durchbruch. Es ist ein ernster und auch wundersamer Roman, der die Gemüter der Literaturkritik spaltete.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Im ersten Teil von Siri Hustvedts großem Roman Was ich liebte liegt viel Hoffnung. Man sieht den Erzähler Leo Hertzberg förmlich vor sich sitzen, einen nahezu erblindeten 70-jährigen Kunsthistoriker, der alte Briefe in der Hand hält und den Entschluss fasst, seine Geschichte aufzuschreiben. Der New Yorker möchte sein Leben in der Rückschau erfassen, erzählen von all dem, was er liebte. Er schien einmal alles zu haben: eine Frau, einen Sohn, einen erfüllten Beruf, einen gesunden Körper und einen besten Freund, den Künstler Bill Wechsler.

 

Leo lebt in den Achtzigerjahren mit seiner Frau Erica im Appartement unter Bills Künstlerloft. Dieser hatte gerade seine verspannte Ehe mit Lucille beendet und zieht den gemeinsamen Sohn nun mit seiner großen Liebe Violet auf. Die Blüte ihres Seins, so scheint es, haben die beiden Paare in diesen Jahren erreicht. Ihre Söhne Matthew und Mark wachsen auf in dieser Gemeinschaft aus Erwachsenen, deren Alltag sich miteinander verwoben hat. Im Zentrum steht die Kunst von Bill, in die er sich – die Zigarette in der einen, den Scotch in der anderen Hand –  oft bis tief in die Nacht vertieft.

 

Schreiben als Poesietherapie

 

Die Ehepaare schreiben Dissertationen, Essays und Sachbücher, steigen tief ein in die mitunter quälende Kunst des Philosophierens, Hinterfragens und Erschaffens. Das Schreiben ist für die Figuren wie eine Poesietherapie; eine künstlerische Therapieform, die auf der Heilkraft der Sprache fußt. Was ich liebte wird so zu einem allusionsreichen Künstler- oder Intellektuellenroman.

 

Dann die jähe Zäsur. Leo und Erica erleiden den größten Verlust, den ein Menschenherz ereilen kann: Ihr elfjähriger Sohn stirbt bei einem Bootsunfall. Mit der wissenden Nüchternheit eines seit jahrzehntelang Trauernden legt Leo Stück für Stück frei, wie sich seine Ehe durch die Katastrophe aufzulösen beginnt. Nach und nach gerät Bills Sohn Mark und dessen Genese vom arglosen Kleinkind zu einem hilflosen Soziopathen schleichend ins Zentrum der Beziehung zwischen den Protagonisten  – und ohne es zu merken, befinden wir uns plötzlich mitten in einem Psychothriller. Der Roman wechselt seine Erzählfarben wie ein Chamäleon.

 

Das Prinzip des Chamäleons

 

Die Unentschlossenheit über das eigene Selbst scheint das bestimmende Prinzip vieler Erzählungen von Siri Hustvedt zu sein. Sie wandelt durch die Disziplinen und webt ihr Wissen über Kunstgeschichte, Geschlechteridentität, Philosophie, Psychoanalyse und Hysterie, Essstörungen, Neurowissenschaften und Feminismus in die Geschichte ein. Wohlgesonnene Rezensentinnen und Kritiker nennen ihre Texte kunstvoll konstruiert, voll von raffinierten Sinnestäuschungen, ein literarisches Spiegelkabinett. Einige skeptische Stimmen nennen sie verkopft und besserwisserisch.

 

Für Was ich liebte gilt zumindest: Wer mit dem anspruchsvollen Referenzsystem und visuellen Kunstbeschreibungen darin nicht zurechtkommt, kann sie ignorieren. Die Geschichte funktioniert nämlich auch, wenn die Lesenden das Intertextualitäts-Angebot ausschlagen. Nur verschlingen kann man den spannungsgeladenen Text nicht. Man muss ihn langsam lesen, weil Leo in seiner reflexiven Selbsterforschung mikroskopisch vorgeht. Dies ist eine große Stärke dieses nachdenklichen Romans: Leos Empfindungen nisten sich im Kopf ein, entwickeln sich dort und werden dadurch auf fesselnde Weise greifbar.

 

Was ich liebte ist am Ende unter anderem auch ein Liebesroman, wenn auch ein recht eigenwilliger. Die Liebe scheint zu verdorren durch die Dynamik aus Nähe und Distanz, in der sie gefangen ist. Gleichzeitig sind die Figuren auf berührende Weise füreinander da. Eine tiefe Gewissheit wärmt alle, die diese 480 Seiten zu Ende gelesen haben: Liebe kann sterben, Freundschaft hingegen ewig bestehen.

 

Siri Hustvedt Was ich liebte

Übersetzt von Uli Aumüller, Erica Fischer und Grete Osterwald

Rororo

11 Euro, 480 Seiten

Erschienen im Jahr 2003

Die Kolumne ist zuerst im Büchermagazin (03_2020) erschienen.

 


Siri Hustvedt (c) Marion Ettlinger
Siri Hustvedt (c) Marion Ettlinger

 

 

Die amerikanische Autorin und Essayistin Siri Hustvedt wurde 1955 in Minnesota geboren. Sie studierte Literatur und promovierte über Charles Dickens. 1993 debütierte sie hierzulande mit Die unsichtbare Frau und erreichte mit Die Verzauberung der Lily Dahl (dt. 1997) größere Bekanntheit. Mit Was ich liebte erzielte sie 2003 ihren internationalen Durchbruch. Mittlerweile ist die preisgekrönte Bestsellerautorin zum Literaturstar avanciert. Sie lebt mit ihrem Ehemann, dem Starautor Paul Auster in New York.