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Eine Spezialistin der gequälten Seele

Die Italienerin Susanna Tamaro avancierte 1994 überraschend vom literarischen Underdog zur Bestsellerautorin. Ihre Fans lieben sie, die Literaturkritik ist gespalten. Zeit, die Schriftstellerin anhand ihres kaum beachteten Kurzromans Luisito – eine Liebesgeschichte neu zu entdecken.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Susanna Tamaro hat mehr als 20 Bücher geschrieben und nahezu alle Titel (Erhöre mein Flehen, Antworte mir) klingen rührselig. Dabei stiften ihre Romane eher Unruhe als dass sie uns in banaler Sentimentalität wiegen. Sie bewegen die Seelen der Lesenden durch grausame Themen wie seelischem Missbrauch oder dem Verlust eines Kindes, und berühren mit der Lakonie ihrer Sprache. Sie sorgen jedoch auch für aufgeregte Kritikerinnen und Rezensenten, die die 1957 geborene vor 20 Jahren gleichermaßen feierten und verdammten.

 

Als Esoterikerin diffamiert

 

Ihr wurde mitunter vorgeworfen, ihre Romane seien triviale Konsumliteratur. Marcel Reich-Ranicki nannte sie im Literarischen Quartett „hinreißend blöd“, die italienische Boulevardpresse diffamierte sie als Esoterikerin und Antikommunistin. Hierzulande wurde hingegen auch die unschuldige Weisheit ihrer Romane gepriesen, die an Hermann Hesses Siddhartha oder de Saint-Exupérys Der kleine Prinz erinnerten. Und dann sind da noch die zig Millionen Leserinnen und Fans, die sich von ihr berührt und gesehen fühlen. Ihr zweiter Roman Geh, wohin dein Herz dich trägt wurde 1994 innerhalb kurzer Zeit zum Welterfolg.

 

Befreien wir uns nun für einen kurzen Moment von allem, was dieser Autorin von der Kritik mitgegeben wurde, von der Schelte, den Interpretationen – und begegnen ihr als Erzählerin von neuem. Vierzehn Jahre nach ihrem Sensationserfolg und inmitten der vielen Romane, die danach folgten, liegt 2008 ein schmales Buch mit einem Papagei auf dem Cover in den Buchläden.

 

Liebe in ihrer reinsten Form

 

Es heißt Luisito – eine Liebesgeschichte, aber es erzählt nicht primär von der Liebe zwischen zwei Menschen. Die Liebe zeigt sich in diesem wundersamen Kurzroman in der arglosen Existenz eines Tieres, das eigentlich sterben sollte. Die Protagonistin Anselma findet den Vogel in der Mülltonne. Sie ist eine einsame Frau, die es sich im Verlauf ihres langen Lebens abtrainiert hatte, zu fühlen. Der Umstand, dass dort auf einmal wieder jemand ist, der sie braucht, öffnet ihre Seele. Anselma denkt über sich und ihre Lebensentscheidungen nach. In spannend eingeflochtenen Rückblenden erfahren wir von den Dingen, die ihr einmal wichtig gewesen waren. Der Roman wird zu einer klugen Selbstbefragung.

 

Eigentlich ist die Verbindung, die zwischen der pensionierten Lehrerin und dem Papagei herrscht, die Liebe in ihrer reinsten Form: Sie kommt ohne Bedingungen oder Verletzungen aus und schenkt Energie. Der Papagei wird wieder zu einem prächtigen Tier, er knabbert an ihrem Ohrläppchen, spricht mit ihr, lauscht ihrer Musik. Anselma wirkt wiederbelebt. Das innere Eis schmilzt.

 

Das Destruktive in uns

 

Susanna Tamaro erforscht das Böse, die destruktive Kraft im Menschen, sagt sie in einem Spiegel-Interview. Dies scheint eine Notwendigkeit ihres Schreibens zu sein – als würde sie durch das Durchschreiten des Leids ihre Figuren, und damit alle, die ihre Texte lesen, wieder zum Fühlen bringen. Das Herz als Zentrum unseres Lebens. Natürlich greift sie dafür auch zu klischeehaften Mitteln. Auch Luisito lebt von der Konstruktion Gut versus Böse und endet mit einer Prise Theatralik. Doch es sind die Zwischentöne und verdeckten Anspielungen dieses ruhig erzählten Märchens, die nachklingen.

 

Greift man zu Tamaros Romanbiografie Ein jeder Engel ist schrecklich wird klar, dass diese koboldhaft anmutende Frau eventuell die großen Fragen der Existenz auf derart intensive Weise durchdringt, weil sie ihre Gefühle als Kind nahezu vernichten musste. Sie wurde gequält und missachtet. So gefror sie zum „Eisbergmädchen“, das später in ein Dasein der vollkommenen Bedürfnislosigkeit glitt und dann durch eine Fügung eine der berühmtesten Schriftstellerinnen Italiens wurde.

 

Die Italienerin ist Spezialistin dafür, zu zeigen, was mit Seelen passiert, denen Liebe grausam vorenthalten wurde. Luisito könnte man als das Sprungbrett ins Tamaro-Universum sehen. Und einmal darin gelandet, sollte sich jeder und jede von uns eine eigene Meinung zu dieser bemerkenswerten Autorin bilden.

 

Susanna Tamaro Luisito

Übersetzt von Maja Pflug

C. Bertelmann Verlag

112 Seiten,  10 Euro

Erschienen 2008, im italienischen Original 1995.

Die Kolumne ist zuerst erschienen im Büchermagazin (01_2020).

 

Susanna Tamaro Geh wohin dein Herz dich trägt

Übersetzt von Maja Pflug

Diogenes Verlag

192 Seiten,  11 Euro

Erschienen 1995, im italienischen Original 1994.

 

 

Susanna Tamaro Ein jeder Engel ist schrecklich

Übersetzt von Barbara Kleiner

Piper Verlag

304 Seiten,  8,99 Euro

Erschienen 2014, im italienischen Original 2013.


Susanna Tomaro (c) Diogenes/Marco Delogu Rezension von Jeanne Wellnitz
Susanna Tomaro (c) Diogenes/Marco Delogu

 

Susanna Tamaro, 1957 in Triest geboren, war Dokumentarfilmerin, bevor sie mit ihrem zweiten Roman Geh, wohin dein Herz dich trägt (dt. 1995) einen Weltbestseller landete. Es folgten zahlreiche weitere Titel, darunter Anima Mundi (dt. 1999), Antworte mir (dt. 2003) oder Erhöre mein Flehen (dt. 2007). Außerdem veröffentlichte sie Romanbiografien wie Ein jeder Engel ist schrecklich (dt. 2014) und einige Kinderbücher. Der Kurzroman Luisito erschien 2008 und ist nur noch gebraucht erhältlich.