Sein Bestseller Nachtzug nach Lissabon machte Pascal Mercier weltweit bekannt. Doch schon seine früheren Romane zeigen, wie hingebungsvoll der Schweizer Philosoph mit Worten umgeht. Sein zweiter Roman Der Klavierstimmer ist das schaurige Zeugnis einer verbotenen Liebe.
Eine Rezension von Jeanne Wellnitz
Lange blickt Pascal Mercier in die eisblauen Augen von Armin Mueller-Stahl. So lange, bis der Autor in ihnen erkennt, was für ein Leben seine Romanfigur wohl geführt haben könnte. Mueller-Stahl steht natürlich nicht leibhaftig vor Merciers Schreibtisch. Sein Porträt hängt als Fotografie an der Wand – so zumindest berichtet es der Spiegel im Jahr 1998, dem Erscheinungsjahr von Merciers zweitem Roman Der Klavierstimmer. Zum Schreiben brauche er lediglich Fotos ausdrucksstarker Gesichter, sowie eine kleine Zeittafel des Plots.
1998 ist zugleich das Jahr, in dem das Magazin Pascal Merciers Pseudonym enttarnt: Hinter dem klangvollen Alias versteckt sich der Philosoph Peter Bieri, in der Schweiz geboren, lange Zeit an der Freien Universität Berlin lehrend. Für den Klavierstimmer schlüpfte er aus der Rolle des geachteten Ordinarius und zog sich in die französische Provence zurück. Schreiben, so berichtet er dem Spiegel-Reporter, der ihn dort aufsuchte, sei für ihn die intensivste Form von Leben.
Verstrickungen in der Hölle
Im Klavierstimmer geht es um eine der intensivsten Formen von Intimität: die Beziehung zwischen Zwillingen, im Roman Patrice und Patricia. Er wird die beiden in die verstrickten Tiefen einer inzestuösen Liaison und damit in die Hölle schicken. Doch ihre Geschichte ist nur ein Teil der ausgeklügelt komponierten Seelenbeschreibung einer Familie, in der sich jedes Mitglied mit der eigenen Tragödie quält.
Der charismatische Mueller-Stahl dient in Merciers Fantasie übrigens als Vorbild für Frédéric Delacroix: den Vater der Zwillinge. Er ist ein renommierter Klavierstimmer, das Epizentrum des Romans, und besessen davon, sich als Opernkomponist zu etablieren. Mit neurotischer Detailverliebtheit schreibt er Partituren, seine gesamte Existenz scheint sich in dieser Sehnsucht aufzulösen. Seine Kinder wohnen diesem Streben verständnissuchend bei, während die morphiumsüchtige Mutter mit ihrer gescheiterten Karriere als Balletteuse hadert.
Der Pakt des Erzählens
Patrice und Patricia schaffen als 19-Jährige größtmögliche physische Distanz zwischen sich, nachdem sie in einer Liebesnacht einem verbotenen Gefühl nachgaben, das sie schon seit jeher leise aneinanderfesselte. Patrice flieht nach Santiago de Chile, Patricia nach Paris – und erst die Nachricht, dass der Vater einen berühmten italienischen Tenor mitten auf der Opernbühne erschossen haben soll, lässt sie nach sechs Jahren der Trennung in Berlin aufeinandertreffen.
Das Wiedersehen schmerzt, die Katastrophe der Vergangenheit steckt in jeder Faser ihres Seins. Um diese krankhafte Form der Liebe zu verstehen, schließen sie einen Pakt des Erzählens: Fortan werden sie Notizhefte mit ihrer Sicht auf ihr Leben füllen, jeweils an den anderen Zwilling gerichtet. Sie äußern damit, was sie bislang nie auszusprechen wagten – eine beeindruckend poetische Annäherung an das eigene Unterbewusstsein. Diese Notizbücher halten wir quasi in der Hand, wenn wir den Roman lesen.
Mitten im Gedankenabenteuer
Dass Mercier Philosoph ist, ist nahezu jedem seiner Sätze anzumerken. Mit dieser gedanklichen Fracht müssen die Lesenden umgehen können; so sind sie während der Lektüre schier voll mit Worten, aufgewühlt, mitten im eigenen Gedankenabenteuer. Denn der mittlerweile 75 Jahre alte Pascal Mercier vermag es, seelische Regungen zu beschreiben, die den meisten Menschen durch das eigene Fühlen vertraut sein werden, die sie jedoch nie vermocht hätten durch Worte für andere greifbar und damit wahr werden zu lassen.
Dieser Stil hat Mercier für seinen letzten Roman Lea auch negative Kritiken beschert. Doch diese Häme wischt er in Interviews lakonisch beiseite. Mit unprätentiösem Gestus, vom eigenen Ruhm überrascht, scheint ihn nur eines wirklich zu interessieren: die Kraft der Worte. Dieses Mysterium – dem facettenreiche Schönheit und vernichtende Macht gleichermaßen innewohnt –, hat er mit seinen Romanen ein Stück weit entschlüsselt.
Pascal Mercier Der Klavierstimmer
Btb
512 Seiten, 10 Euro
Erschienen 1998.
Die Kolumne wurde zuerst im Büchermagazin (05_2019) veröffentlicht.
Der Schweizer Philosoph Peter Bieri wurde unter seinem Pseudonym Pascal Mercier als Romancier weltberühmt. 1944 in Bern geboren, studierte er später Philosophie und Klassische Philologie und lehrte als Professor unter anderem an der Freien Universität Berlin. Als Autor debütierte Mercier 1995 mit dem im Feuilleton hochgelobten Perlmanns Schweigen, 1998 folgte Der Klavierstimmer. Mit Nachtzug nach Lissabon (2004) landete er schließlich einen Bestseller.