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Zwischen Ekstase und Ersticken

Albert Cohen zeigt, was geschieht, wenn zwei Liebenden nichts anderes mehr übrig bleibt, als einander irgendwie festzuhalten. Eine schauerliche Dekonstruktion einer einst ekstatischen Leidenschaft.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Fast 900 Seiten hat Albert Cohen gefüllt, um von der Amour fou des zum „Erbrechen schönen“ Juden Solal und der wohlerzogenen, unglücklichen Ariane D’Auble zu erzählen. Nach der Lektüre dieses Jahrhundertromans, ist gewiss: Das, was Albert Cohen zu sagen hat, muss er in dieser verausgabend genauen Weise tun. Durch diese Präzision hat er ein Universum geschaffen voll an existenziellem Begehren, hymnisch gepriesener Liebe und schwüler Erotik. Dieser Sog ins Rauschhafte wird kontrastiert durch pointierte satirische Passagen über die Genfer High Society.

 

Der Zensur unterworfen

 

Eigentlich hatte Albert Cohen dieses gigantische Werk bereits Ende 1938 fertiggestellt und wollte es in Frankreich publizieren. Doch der Gallimard-Verlag intervenierte: Der Text wäre zu lang. Aber auch Antisemitismus werde eine Rolle gespielt haben, spekuliert der Schriftsteller Michael Kleemann 2012 in der Literarischen Welt. Albert Cohen hat jüdische Wurzeln, ebenso wie sein Protagonist Solal. Dessen Liebesgeschichte mit der jungen Schweizerin Ariane D’Auble muss Albert Cohen auf Wunsch des Verlags aus dem Roman streichen, so dass er gekürzt unter dem Titel Eisenbeißer 1938 veröffentlicht wurde.

 

Zehn Jahre nach dem Krieg und den Schrecken des Holocausts setzt sich Albert Cohen noch einmal an die herausgenommenen Passagen. Er vertieft sich über ein Jahrzehnt obsessiv in die Verfeinerung dieser Liebesgeschichte. Sie erscheint schließlich 1968 in Frankreich und wird mit dem Großen Romanpreis der Académie française ausgezeichnet. Es bleibt ein Rätsel, weshalb der Sprachzauberer Albert Cohen in Deutschland kaum bekannt ist.

 

Die süffisante Kunst der Verführung

 

Der Protagonist Solal ist ein arrivierter Genfer Diplomat; ebenso wie Albert Cohen es war. Als stellvertretender Generalsekretär des Völkerbundes hat Solal die Macht, Arianes Ehemann einen eitlen kleinen Beamten auf einen Auslandseinsatz zu schicken. Solal erobert die arglose Ariane schließlich mit einem aufgebrachten Monolog über die Kunst der Verführung. Sie verliebt sich tatsächlich in ihn, so wie er es süffisant prognostiziert hatte. Unerwartet trifft auch ihn die Liebe.

 

Die süße Vereinigung ist jedoch gefährdet als der gehörnte arme Tropf von seiner Dienstreise zurückkehrt. Solal entführt Ariane daraufhin nach Frankreich und es beginnt ein Leben unter einer Glasglocke. Ohne Anstellung und ohne Gesellschaft, ist die Liebe nun alles, was ihnen bleibt.

 

Die Folter beginnt

 

Geht Solal auf die Straße, schlägt ihm Antisemitismus entgegen. Ihn verändert das. Ariane hingegen leugnet dieses düstere Realität und versucht die Leidenschaft aufrecht zu erhalten. Solal quält, dass sie sich jeden Tag exzessiv für ihn zurechtmacht, zum Niesen den Raum verlässt, ständig nach seinem Körper verlangt. Er würde sie am liebsten einfach zärtlich lieben, ohne jegliche Inszenierung. Fast scheint man mit ihm zu ersticken: „Da lag sie, sanft und zaubermächtig, mit ihrem Lächeln der Erwartung im matten dunkelroten Schein der Lampe, schweigende Ruferin, liebend, schrecklich. Er erhob sich und trat in die Welt der Frauen.“

 

Doch auch Arianes Begehren wird zusehends fad, ihre glänzenden Augen matt. Sie ist sich seiner Liebe zu sicher. Um Ariane wieder Leben einzuhauchen, beginnt dieser gebrochene, heimatlose Don Juan die junge Frau emotional zu peinigen. Es gibt wohl keinen ehrlicheren Blick in die Psyche zweier Verlorener.

 

Albert Cohen

Die Schöne des Herrn

Übersetzt von Helmut Kossodo, grundlegend überarbeitet von Michael von Killisch-Horn

Klett-Cotta

891 Seiten, 24,95 Euro

Auf Deutsch erschienen im Jahr 1987

Dies ist eine überarbeitete Version der Kolumne aus dem Büchermagazin (05_2016).

 


Albert Cohen wurde 1895 einer jüdischen Familie russischer Herkunft auf Korfu geboren, ging in Marseille zur Schule, studierte in Genf Jura. 1919 erhielt er die Schweizer Staatsbürgerschaft. Cohen arbeitete für den Völkerbund und ist einer der wichtigsten französischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts. Sein Hauptwerk ist der Romanzyklus Solal (1930; alle Angaben beziehen sich auf die französischen Originale), Eisenbeißer (1938), Die Schöne des Herrn (1968) und Die Tapferen (1969). Den Holocaust überlebt der jüdische Autor in London. Er starb 1981 in Genf. Für sein literarisches Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet; 1968 erhielt er für den Roman Die Schöne des Herrn den Großen Romanpreis der Académie française. Die Schöne des Herrn erschien 1987 auf Deutsch.