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Das magische Mosaik

Felix ist verschwunden, und taucht plötzlich nach zehn Jahren wieder auf. Oder ist er es gar nicht? Katharina Hartwells zweiter Roman ist ein kunstvoll komponiertes Spiel der Figurenwahrnehmung. Packend, einzigartig und von fast schon schmerzhafter Feinfühligkeit.

 

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

 

In diesem Roman geht es allen Figuren schlecht. An einem heißen Augusttag vor zehn Jahren ging der 19-jährige Felix zur Tankstelle, um eine Cola zu kaufen. Er kehrte nie wieder zurück. Dieser Verlust hat alle Beteiligten grundlegend verändert. Louise hat durch Felix’ Verschwinden ihren Bruder verloren, Paul seinen besten Freund, Agnes ihren Sohn. Im Verlauf von Katharina Hartwells Der Dieb in der Nacht wird den Lesenden der fräsende Schmerz, der seelische Stillstand der Figuren in einer ungeahnt mächtigen Weise nahekommen.

 

Der Romanbeginn soll hier nur kurz in eine Chronologie gezwungen werden, denn die Geschichte lebt von den mosaikartigen, sich ergänzenden Sichtweisen der Beteiligten: Paul erstarrt, als er in Prag einen Mann sieht, der dem verschwundenen Felix ähnelt, Er spricht ihn an, lässt sich nicht abwimmeln. Der Unbekannte heißt Ira Blixen, ist Künstler und lässt Pauls Nähe nur widerwillig zu. Wie ein schreckhaftes Insekt könnte er jederzeit wieder verschwinden, eine Befürchtung, die auch die Lesenden erfasst. In intensiv erzählten Gedankengängen und Szenen erinnert sich Paul an ihre gemeinsamen Jahre, lässt aber auch viel Ungewissheit über seine eigene Wahrnehmung mitschwingen. Sie bringt die Erzählung ins Wanken und füttert zugleich die enorme Spannung. Blixen gibt später zu, dass er vor zehn Jahren aus der Moldau gerettet wurde; sich jedoch an nichts erinnern kann, ihm danach auch nicht mehr verlangt. Er schickt Paul fort.

 

Im Quasi-Delirium

 

Zurück in Berlin wird Paul von einem heftigen Fieber erfasst, der Beginn seines physischen und seelischen Verfalls, ein Quasi-Delirium, das später durch täglichen Rotweinkonsum aufrechterhalten wird. Blixen sucht ihn unerwartet in Berlin auf, weshalb, bleibt ungewiss. Er zieht in Pauls heruntergekommene Einzimmerwohnung und wird bald Louise und deren Mutter Agnes begegnen.

 

Durch dieses Aufeinandertreffen werden die Beziehungen aller Figuren aufgerüttelt und durch die präzise Gedanken- und Stimmungswiedergabe für die Leserinnen und Rezipienten erschütternd deutlich gemacht. Die Familie ist zersplittert. Louises und Felix’ Mutter, Agnes, ist unterkühlt und verspannt. Louise, das Kind, das ihr geblieben ist, blendet sie aus. Der Vater Simon tritt nie eigenständig auf, wird durch Erzählungen als Leerstelle in der Familie präsent; emotional völlig unerreichbar.

 

Das Echsenwesen

 

Kurz vor seinem Verschwinden war Felix im Begriff auszubrechen. Er wollte zum Studieren nach Frankfurt gehen, und damit sicherlich auch die einnehmende Beziehung zwischen ihm und Paul kappen. Paul ist fortwährend vom Wollen beherrscht. Eine Gier, die sich seiner bemächtigt, Agnes und Felix in den Fokus nimmt und Louise ins Abseits zu stellen versucht.

 

Paul bekommt nun endlich Blixens Aufmerksamkeit. Doch wandelt sich der hagere, schwarzhaarige junge Mann von einem mysteriösen, eleganten Prager Künstler zu einer Art Echsenwesen, zum Angriff bereit und undurchschaubar. Niemand weiß mehr, woran er glauben kann. Und auch die Lesenden werden es nicht erfahren. Die ungewissen Fakten und die magisch anmutende Sprache machen diesen Roman zu einem brillanten Text über Sehnsucht, Wünsche und Verlusterfahrung am Rande der eigenen Existenz.

Wolfram Eilenberger Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)

 

Katharina Hartwell

Der Dieb in der Nacht

Berlin Verlag

320 Seiten, 20 Euro

Erschienen im Jahr 2015.

Die Rezension wurde zuerst im Büchermagazin (6_2015) veröffentlicht.