Christoph Meckels Erzählung Licht verhalf ihm vor über 40 Jahren zum Durchbruch und ist Zeugnis seiner unnachahmlichen, lyrischen Sprache. Es ist die Geschichte eines Betrugs – und einer inneren Flucht, die jeder und jede von uns bereit sein wird, mitzugehen.
Eine Rezension von Jeanne Wellnitz
Der erste „unaufrichtige Augenblick“ zwischen Gil und Dole geht beiläufig vorüber. Eigentlich sind sie ein glückliches Paar. Ob er Kaffee wolle, fragt sie ihn und lächelt unbefangen. Sie weiß nicht, dass Gil gerade einen Brief gelesen hat, der eigentlich für Doles Liebhaber bestimmt war.
Es ist ein unbestimmter Sommertag, an dem Christoph Meckel seinen Protagonisten Gil dieses verhängnisvolle Stück zerknülltes Papier im Gartenlaub finden lässt. Die ungeduldige Sehnsucht der Zeilen zwingt ihn in die Gewissheit: Dies ist keine flüchtige Liebschaft! Es ist ein zweites Leben, eine zweite Dole. Gil kennt nun ihr Geheimnis, nimmt es erstarrt zur Kenntnis. „Ich stand in meinem Zimmer und atmete noch, spürbar anwesend in meinen Kleidern, ich war nicht mehr derselbe und war noch da.“
Der Alltag in lyrischen Sphären
Als Dole ihn ahnungslos zum Kaffeetrinken einlädt, holt sie Gil zurück in die gemeinsame Gegenwart. Wie soll er ihr nun begegnen? Er ist nicht wütend, nicht selbstgerecht, eher bestürzt, und dabei präzise und ruhig. Dieser besonnene Duktus des Ich-Erzählers, der Details des Alltags in lyrische Sphären hebt, entspringt Christoph Meckels bemerkenswerter dichterischer Gabe. Seine Sprachbilder sind tiefgehend, ausgewogen, uneitel.
Christoph Meckel sei das große Phantom der deutschen Literatur, schrieb der Journalist und Schriftsteller Hilmar Klute vor einigen Jahren in der Süddeutschen Zeitung. Meckel suchte nie die Öffentlichkeit, überzeugte durch die Exzellenz seines erzählerischen Könnens, sowohl in seiner Lyrik als auch in seinen Erzählungen und den autobiografischen Porträts seiner Eltern. Dies nun ist das Porträt einer am Abgrund stehenden Liebe, die sich einzig durch Erinnerungen selbst beseelt. Denn Gil zieht Dole nicht zur Rechenschaft.
Das Rascheln der Akazienblätter
Die Lesenden folgen seinem Gedankenstrom, der die Gegenwart bruchstückhaft einfängt, wieder in die Vergangenheit eintaucht, dort fließt, Dialoge wachruft, Bilder, Gerüche und Fakten vermengt. Gils gesamte Persönlichkeit löst sich zeitweise in diesen Erinnerungen auf, sie schwebt durch die konturlose Untätigkeit des vollkommenen – vergangenen – Glücks zu zweit. Gemeinsame Spaziergänge, Urlaube, Hotelzimmer, Wiesen, Bars, Terrassen, Restaurants – es war eine Zeit bewegender Nähe, beruhigenden Müßiggangs. Man riecht den Kaffee, die Zigaretten, den Rotwein, hört das Rascheln der Akazienblätter. Selten kommen Autoren oder Schriftstellerinnen mit so wenig direkter Rede aus – und lassen gleichzeitig bedeutende Dialoge derart plastisch durch das Erzählte fließen.
Es ist die „schöne atemlose Verlorenheit“ zweier Liebender, die nun ihr Ende gefunden hat. „Was früher Ruhe bedeutete, Selbstvergessenheit in einem leichten Weinrausch, Beschäftigung mit Artikeln, Fotografien, Konzentration …“, sagt Gil, der wie Dole Journalist ist. Jetzt bedeute es nichts, außer zu viel Zeit für sich selbst. Zeit, in der er sie betrachtet, und ratlos ist. Wie geht das Ganze aus? Kurioserweise beantwortet das der Fischer Verlag bereits im Umschlagtext, also schnell zur Geschichte weiterblättern. Darin zeigt Christoph Meckel eindrucksvoll, dass er mit wenigen Sätzen ganze Gefühlswelten auf den Punkt zu bringen vermag, und sich damit Stück für Stück in das emotionale Gedächtnis aller schreibt, die seine Texte lesen.
Christoph Meckel Licht
Fischer Verlag
128 Seiten, 6,95 Euro
Erschienen 1978.
Die Kolumne ist zuerst erschienen im Büchermagazin (05_2015).
Der preisgekrönte Schriftsteller und Lyriker Christoph Meckel wurde 1935 in Berlin geboren. Er studierte einige Semester Grafik und Malerei in
Freiburg und veröffentlichte mit 21 Jahren den Gedichtband Tarnkappe. Mit Tullipan (Erzählung, 1965), Bockshorn (Roman, 1973) und der Erzählung Licht (1978)
gelang ihm der Durchbruch. 2015 erschienen die gesammelten Gedichte des preisgekrönten Dichters der Nachkriegsliteratur. Im
Januar 2020 starb Christoph Meckel mit 84 Jahren.