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Liebe in alten Vokabeln

Rashid liegt im Wachkoma. Seine Freundin Valerie offenbart ihm alles über ihre Liebe auf einer Kassette, die ihm vorgespielt werden soll, wenn sie für drei Monate verreist. Ein empfindsamer Akt der Selbsterforschung, der schicksalsschwer endet.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Die ersten Sätze dieses Romans sind der Abschluss einer Irrfahrt. „Hier endet meine Reise zu den Männern“, erklärt Valerie zu Beginn von Roger Willemsens Kleine Lichter. „Du bist mein letzter Mann“, spricht sie in ihrer Wiener Wohnung sitzend in das Mikrofon eines Aufnahmegeräts. „Ich will dir die Liebe erklären, wie man den Krieg erklärt“, fährt sie fort. „Das heißt, die Liebe kann ich dir nicht erklären, nur meine. Ich erkläre sie dir in alten Vokabeln. Es geht nicht anders: Wer liebt, wechselt das Jahrhundert.“

 

Der Ernst der Leidenschaft

 

Der Journalist Jörg Steinleitner fragte Roger Willemsen einst im Interview, was er mit diesen alten Vokabeln meine. „Wir leben in einer ironischen Zeit, in der uneigentliche Sätze, nicht-gemeinte Aussagen triumphieren“, antwortet er. „Leidenschaft dagegen kennt kein Uneigentliches, sie meint alles ernst, und sie greift zu Worten, die außer Gebrauch gekommen sind.“ Valerie wählt für ihre Liebeserklärung Worte, die entstehen, wenn man fühlt. Sie nimmt ihre Empfindungen in all ihren Schattierungen wahr. „Hör zu, ich erzähle dir meine Version von dir und mir“, spricht sie weiter auf das Band, um ihrem Schmerz erzählerisch die Stirn zu bieten.

 

Bevor sie ihre Beziehung zu Rashid präzise seziert, erzählt Valerie von ihren Liebhabern; allesamt gesichtslose Männer, die ihr Leben vor Rashid bestimmten. Sie blickt schmerzvoll zurück, gibt äußerst intime Auskunft; sie therapiert sich selbst. Willemsen sagte im Interview, seine Heldin sei ihm manchmal auch peinlich gewesen.

 

Nichts als Geschwurbel?

 

Dem Literaturkritiker Hubert Winkels stören nicht nur diese neurotischen Episoden. In seiner Besprechung wendet er sich gänzlich von der Protagonistin ab und spekuliert über Roger Willemsens Bedürfnis, endlich der Erzählende zu sein. Schließlich habe der Talkmaster seinen Gästen in nahezu 2.000 Interviews genug gelauscht.

 

Kleine Lichter ist nichts als „Geschwurbel der intellektuellen Premiumklasse“, sagt Winkels und bedankt sich süffisant beim französischen Schriftsteller Roland Barthes. Barthes' Texte zeigten der Welt, wie sich das Subjekt durch das Schreiben selbst entwirft. So, wie Valerie es auf beeindruckende Weise tut. „Was die anderen Form nennen, erlebe ich als Kraft“, lautet ein bedeutender Satz des berüchtigten Zeichentheoretikers Barthes.

 

Solch eine formlose Kraft der Gedanken trifft auch alle, die Kleine Lichter lesen, eine Energie, die durch Willemsens brillantes Gefühl für Sprache und Metaphern tief in das Geschehen zieht. Einige werden die Grenzen vermissen, die die Erzählerin nicht setzt, nicht setzen kann – denn ihr fehlt schließlich der Gesprächspartner. Was hält Valerie aufrecht in dieser Einsamkeit? Einmal sah sie Rashid in die starren Augen: „Da waren in deiner Pupille, im Geröllfeld dieser Farben aus Blau und Grau und Grün, die ich immer so mochte, da waren kleine Lichter, Reflexe vielleicht, ein Irrlichtern der Impulse.“ Sie hofft.

 

Dieser hochintelligent erzählte Roman stellt die eigene emotionale Belastbarkeit  auf die Probe. Wie tief wagen wir, in die Gedanken einer gebrochenen Seele einzudringen? Wie viel davon finden wir in uns selbst wieder? Wann hört es auf, wehzutun?

Roger Willemsen: Kleine Lichter (2005)

 

Roger Willemsen Kleine Lichter

Fischer Verlag, 208 Seiten, 8,95 Euro

Erschienen im Jahr 2005

Die Kolumne ist zuerst erschienen im Büchermagazin (03_2015).

 

 


Roger Willemsen (c) Anita Affentranger
Roger Willemsen (c) Anita Affentranger

 

Roger Willemsen, 1955 in Bonn geboren, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie in Bonn, Florenz, München und Wien und promovierte 1984 über Robert Musils Dichtungstheorie. Danach arbeitete er als Dozent, Übersetzer und Korrespondent, später als Moderator, Regisseur und Produzent fürs Fernsehen. Er wurde für seine Werke vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen posthum seine gesammelten Kolumnen aus dem Magazin der Zeit: Willemsens Jahreszeiten (2020). Kleine Lichter wurde 2005 veröffentlicht. Roger Willemsen starb im Jahr 2016 in Hamburg.