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Parforceritt für die Liebe

Der mehrfach verfilmte Roman Die Kameliendame ist das Portrait einer glühenden Liebe, die sich durch bürgerliche Zwänge und Misstrauen selbst zerstörte.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Marguerite Gautier kommt aus der Halbwelt. Sie ist eine der berühmtesten Kurtisanen der Weltliteratur und Alter Ego von Marie Duplessis. Duplessis war Alexandre Dumas fils’ Geliebte und begehrte Femme fatale im Paris des 19. Jahrhunderts. Sie war bekannt dafür, allabendlich mit einem Strauß Kamelien im Theater aufzutauchen. Dumas fils’ Roman Die Kameliendame gilt als Aufarbeitung dieser Liaison.

 

Nach Marie Duplessis’ Tod wurde ihr Hab und Gut in einer pietätlosen Auktion Schaulustigen feilgeboten. Mit dieser Szene  beginnt auch Die Kameliendame. Unter den Teilnehmenden ist auch der Ich-Erzähler, an Marguerites Leben unbeteiligt. Er ersteigert Abbé Prévosts Werk Manon Lescaut, eine 1731 tatsächlich veröffentlichte tragische Liebesgeschichte, und vielsagender Querverweis im Roman. Das Prévost-Buch war ein Geschenk von Armand Duval, der den Ich-Erzähler später unter Tränen um dieses letzte Andenken bittet.

 

Zwischen Preisgabe und Zurückhaltung

 

Zu diesem Zeitpunkt hat dieser Populärroman, der zwischen Preisgabe und Zurückhaltung oszilliert, die Lesenden bereits fest im Griff: Es ist ein Parforceritt durch die erschütterten Gefühle der Figuren. So muss Armand Marguerites Leichnam sehen, um zu begreifen, dass sie tot ist. Der Ich-Erzähler lässt das Grab öffnen und tröstet seinen neugewonnenen Freund, der ihm daraufhin seine Liebesgeschichte anvertraut. Hier geht die wohlkalkulierte Spannung voll auf, indem die Erzählstimme von der lückenhaften Außenperspektive des Fremden zur Innenperspektive Armands wechselt. Diese ist ebenso fragmentiert, da Marguerite erst später durch ihre Briefe zu Wort kommt.

 

Die Magie der Kurtisane

 

Paris, einige Monate zuvor: Die elegante Kurtisane Marguerite zieht Armand magisch an. Übermütig macht er ihr den Hof, sie gibt sich unnahbar. Als er ihr jedoch bei einem blutigen Schwindsucht-Anfall tröstend die Hand hält, ist sie tief bewegt. Er wolle sie pflegen, versichert er. Marguerite willigt ein, aber verkauft aus Liebe heimlich ihre Besitztümer, um kein Geld von Armand nehmen zu müssen. Beide spüren die subtile Bedrohung, die von seiner Familie und ihrer Vergangenheit ausgeht. Armand ist sich ihrer Liebe nie ganz sicher: „Ich war halb wahnsinnig. Bald fand ich mich weder schön noch reich, noch elegant genug, um eine solche Frau zu besitzen, bald empfand ich beim Gedanken daran eitlen Stolz; dann begann ich zu fürchten, Marguerites Zuneigung sei nur eine Laune von wenigen Tagen.“

 

Eine moderne Übersetzung

 

Dieses Zitat stammt aus der Neuübersetzung von Andrea Spingler (*1949), einer modernen Version des über 160 Jahre alten Texts. Ihre Wortwahl ist klar und zeitgemäß. Die frühere Fassung von Walter Hoyer (*1893) wählt zärtlichere Formulierungen – die der eine oder die andere womöglich pathetisch findet. Hoyers Übersetzung trägt dafür alle, die sie lesen, tiefer in das literarische Abbild der düsteren demi-monde. Eine Welt, in der Schwindsucht – wie die Kulturkritikerin Susan Sontag in Die Krankheit als Metapher bemängelte – als Konsequenz für ein lasterhaftes Leben galt. Marguerite bekommt diese sublime Anklage Zeit ihres Lebens zu spüren.

 

Ganz gleich, welche Übersetzung gewählt wird: Lassen wir uns auf diesen Roman ein, trifft uns mit voller Wucht der Schmerz, den Armand Duval zitternd erduldete, als er seiner toten Geliebten zu Beginn des Romans die letzte Ehre erwies – und sich gewiss war, dass sie ihr Leben gab, um ihn zu retten.

 

Alexandre Dumas der Jüngere Die Kameliendame

Übersetzt von Andrea Spingler

Insel Verlag

246 Seiten, 21,95 Euro

Die Originalausgabe ist 1848 erschienen.

 Diese Kolumne wurde überarbeitet und ist zuerst im Büchermagazin (1_2015) veröffentlicht worden.

 


Alexandre Dumas fils (c) Wikicommons
Alexandre Dumas fils (c) Wikicommons

 

Alexandre Dumas der Jüngere (Dumas fils) wurde 1824 in Paris geboren. Er war der uneheliche Sohn von Alexandre Dumas der Ältere (Dumas père), der durch den Abenteuerroman Die drei Musketiere (1844) berühmt wurde. Die Kameliendame erschien 1848 und ist Dumas fils bekanntestes Werk. 1949 wurde die Bühnenversion uraufgeführt. Sie diente Guiseppe Verdi später als Vorlage für seine Oper La Traviata. Dumas fils starb 1895 in der Nähe von Paris.