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Die Liebe als Fluch

In ihrem einzigen Roman Sturmhöhe beweist Emily Brontë ihr faszinierendes Talent für die Darstellung emotionaler Ausnahmezustände . Die obsessive Liebe der beiden Figuren reißt fast zwei Familien mit in den Abgrund.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Emily Brontë starb nur ein Jahr nach Veröffentlichung ihres einzigen Romans Sturmhöhe; vermutlich an Tuberkulose oder an einer Lungenentzündung. Sie konnte nicht ahnen, dass er einmal zu den wichtigsten Werken des 19. Jahrhunderts gehören würde. Dem frühviktorianischen Lesepublikum war damals das unmoralische, gewissenlose Verhalten von Brontës Figuren ein Dorn im Auge. Moral oder Sozialkritik suchte die englische Presse in dieser wilden Liebes- und Rachegeschichte vergeblich. Doch spätere Generationen erkannten und feierten die Genialität ihres unkonventionellen Debüts.

 

Der Geist einer Toten

 

Der Roman beginnt mit einer virtuosen Albtraumerzählung. Eine Szene, die Brontës Bewunderung für die Schwarze Romantik brillant widerspiegelt. Trotzdem positioniert die Autorin ihren Roman fernab zeitgenössischer Genres: Sturmhöhe ist Liebes-, Entwicklungs- und Gruselroman in einem und steht mit seiner modernen Erzählweise außerhalb seiner Zeit.

 

Schauplätze des Romans sind zwei Gutshöfe inmitten der rauen Moor- und Heidelandschaft Nordenglands. Mr. Lockwood, der neue Pächter von Thrushcross Grange, besucht seinen Nachbarn Heathcliff im vier Meilen entfernten Wuthering Heights und bleibt über Nacht. Er wird von schrecklichen Albträumen gequält und begegnet im Schlaf dem Geist der toten Catherine, die in Wuthering Heights ihre Kindheit mit Heathcliff verbrachte. Als Heathcliff hört, dass Lockwood Catherines Geist erschien, will er schmerzerfüllt seine Cathy zurückrufen. Das Interesse des neuen Pächters ist geweckt. Wer war diese Catherine? Er bittet seine Haushälterin Nelly, ihm Heathcliffs und Catherines Geschichte zu erzählen.

 

Nellys Ausführungen reichen dreißig Jahre zurück und beruhen auf persönlichen Erfahrungen sowie Briefen und Berichten anderer Bediensteter. Brontë bietet damit eine kunstvoll verschachtelte Erzählung mit gleich zwei Ich-Erzählstimmen. Eine Geschichte von fragwürdiger Glaubwürdigkeit und ohne bewertende Instanz: Das war Mitte des 19. Jahrhunderts innovativ und mutig.

 

Das ungestüme Findelkind

 

Durch Nelly erfährt Lockwood, dass die damals sechsjährige Catherine mit ihrem Bruder Hindley in Wuthering Heights lebte, als ihr Vater den obdachlosen kleinen Heathcliff mit nach Hause brachte. Ein Findelkind von exotischem Aussehen, das Catherine in ihr Herz schloss. Ihr Bruder jedoch schlug und schändete Heathcliff, der dies tränenlos und stoisch ertrug. Noch Jahre später gehörte Catherines Herz dem mittellosen, raubeinigen Ziehbruder, dessen Natur ebenso ungestüm und leidenschaftlich war wie ihre. „Meine ganze Vorstellung vom Leben ist er“, vertraut sie Nelly an.

 

Dennoch nimmt sie später den Antrag des gut situierten Edgar Lintons an. Zutiefst verletzt über diese Heirat verlässt Heathcliff Wuthering Heights und kehrt drei Jahre später als reicher Mann zurück. Sein abgrundtiefer Hass auf Catherines Ehemann und Hindley, seinem früheren Peiniger, ist genauso grenzenlos wie seine unerschütterliche Liebe zu Catherine.

 

Kaltblütige Rache

 

Heathcliffs kaltblütige, alles erfassende Rache macht diesen Roman zu einem verhängnisvollen, schwer verdaulichen Meisterwerk. Der Tyrann von dämonisch geheimnisvoller Schönheit spielt oft eine verachtenswerte Rolle. Aber er ist nicht der Einzige, der gnadenlos um sich schlägt. Mitunter blättert man, benommen von der verzweifelten Durchtriebenheit der Figuren, nur widerwillig weiter. Aber man tut es! Denn Brontës feinsinnige Beschreibungen von Heathcliffs intensiver Gefühlswelt, Catherines stürmischer Ambivalenz und Edgars Verzweiflung sind beeindruckend.

 

Die Liebe hat in Sturmhöhe kaum versöhnende Kraft, sie ist eher ein Fluch, der alle beteiligten Figuren und die gemarterten Leserinnen und Rezipienten schier gefangen hält. Die Lektüre strapaziert und bewegt gleichzeitig . Einige unter uns legen vielleicht das Buch frühzeitig aus der Hand, andere wiederum werden nie vergessen, wie ergreifend dieser Roman endet.

Das Original von Sturmhöhe erschien 1847. Der Verlag Hanser veröffentlichte 2016 eine Neuübersetzung von Wolfgang Schlüter. Der DTV-Verlag brachte anlässlich des 200. Geburtstages von Emily Brontë im Jahr 2018 eine Neuauflage heraus, übersetzt von Michael Messner. Im Insel Verlag erschien 2011 eine Übersetzung von Greie Rambach.

 

Hanser: 640 Seiten, 39,90 Euro

DTV: 496 Seiten,  12,90 Euro

Insel: 454 Seiten 8,95 Euro

Die Kolumne wurde überarbeitet und ist zuerst erschienen im Büchermagazin (03_2013).


Emily Brontë wurde 1818 in West Yorkshire/England geboren und lebte mit ihren Geschwistern Charlotte, Anne und Branwell in der Abgeschiedenheit eines entlegenen Pfarrhauses. Geplagt von finanzieller Not, suchten die Brontë-Geschwister Rückhalt in der Welt der Bücher. Als ihre Lehrtätigkeiten nicht genug finanziellen Rückhalt boten, wagten die Schwestern den Versuch, vom Schreiben zu leben. Anne, Emily und Charlotte publizierten zeit ihres Lebens unter männlichem Pseudonym. Branwell unter seinen bürgerlichen Namen. Sturmhöhe erschien 1847 unter dem Pseudonym „Ellis Bell”. 1848 starb Emily Brontë vermutlich an Tuberkulose oder an einer Lungenentzündung.