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Überforderte Verliebtheit

In Iris Hanikas bewegendem Liebesroman Treffen sich zwei sehen sich die aufgewühlten Hauptfiguren mit der ungeheuren Schlagkraft der Liebe konfrontiert. Beide sind überfordert – und doch zu allem bereit.

Eine Rezension von Jeanne Wellnitz

Sommer in Kreuzberg. Ein August, der Haut und Luft eins werden lässt. Zwei umtriebige Mittvierziger werden an diesem Abend zufällig in dieselbe Bar gehen. Senta ist eine beruflich relativ erfolglose, doch gedankenreiche Frau, die sich fragt, was passiert wäre, wenn Nietzsche sie geliebt hätte.

 

Thomas ist Systeminformatiker. Ein analytischer Denker, der Entscheidungen trifft, ohne zu hadern. Nun sitzen sie einander gegenüber: Während sie sich fragt, ob sie Ihrem momentanen (Liebes-)Unglück die Treue bricht, streichelt er plötzlich in einer kurzen Bewegung ihren Nacken. Seine Hand fehlt ihr schon während der Berührung.

 

Gedankenströme und Widersprüche

 

Der erste Kuss geht mitten ins Herz. Die Stimme der Erzählerin tritt hinter Songzeilen, die erklingen lassen, was Senta denkt: „It‘s in his kiss“. Die Liebe soll also beginnen. Doch was Senta tatsächlich fühlt, ist entkoppelt von ihrem Handeln. Während andere zur Arbeit gehen, führt sie ihre Gedankenketten ad absurdum. Sie tut dies auf äußerst hohem Niveau, jedoch auch in Widersprüchen, die die Lesenden fast immer vor ihr entschlüsseln.

 

Ihre Sprache ist durchzogen von rasanten Stilwechseln. Uns wirbeln Sätze entgegen, die mit bekannten Songtexten oder Lyrikauszügen von Heinrich von Kleist oder Gottfried Benn interpunktiert werden. Fragmente, die sich immer wieder in die Rede der unter Strom stehenden Protagonistin schummeln und die Zustände der Sehnsucht, Ratlosigkeit oder Begierde wiedergeben.

 

Unbeholfen wie ein Fohlen

 

Die Begegnung mit dem IT-Berater, der so gar nicht in Sentas Beuteschema passt, kann sie nicht, wie gewohnt, gedanklich zerlegen. Denn sie weiß nichts über ihn. Also muss erstmal das Aussehen für eine Bewertung herhalten. Seine Arme sind zu lang, seine Schultern hängen zu sehr herunter, der Bauch ist schlaff. Doch jegliches Kaputtdenken führt sie immer zum selben Schluss: Er sieht aus wie der Mann, den sie einmal lieben würde. Sein leichtes Schielen trifft sie aus zwei „hellgrünen Augensternen“, seine Disproportionalität rührt sie wie die Unbeholfenheit eines Fohlens.

 

Für Kritik bleibt trotzdem etwas übrig. Unfassbar, dass er die Nacht mit ihr einfach nur „sehr schön“ fand. Kaum zu glauben, dass er Selbstverständliches auch noch ausspricht. Abgesehen davon: Wie kann es sein, dass er tatsächlich anruft; noch am selben Tag? Sobald der Wunsch erfüllt ist, beginnt die Furcht.

 

Sentas Hang zur Selbstzerstörung nötigt Thomas fast jegliche Geduld ab. Aber er will nicht aufhören, sie zu begehren; die Frau, deren Schönheit „ohne jede Übertreibung, ohne jede Lücke“ auf ihn einströmt. Doch er braucht nur ein „wir“ auszusprechen und sie erstickt beinahe vor Nähe. Fast verheiratet!

 

Doch dann „rieselt sein Körper in sie hinein“ und sie bricht ihre Bedenken ab. Ihre Körper scheinen das Einzige zu sein, was sie erst einmal zusammenhält. Denn sobald über Wichtiges gesprochen wird, verschränkt sich Senta sogleich und der  Kontakt scheint abgebrochen. So kämpfen sie sich durch „sterile Kleingespräche“, die verhindern sollen, tatsächlich zu reden.

 

Körperlichkeit und Zerstörungstrieb

 

Also verbringen sie die gemeinsamen Tage doch lieber in körperlicher Verschmolzenheit. Für Thomas ist „Soll-Zustand gleich Ist-Zustand“. Er verlässt ihre Wohnung und denkt nur noch in Bildern und Gefühlen. Wenn er die Augen schließt, „fährt ihm Senta ins Fleisch“. Senta führt derweil Zwiegespräche mit ihrem Selbstbewusstsein, das alles herunterrechnet, was vor kurzem noch schön war. Doch Thomas‘ unbedingte Liebe hilft ihr zu erkennen, dass auf Verliebtheit etwas anderes folgen kann als „die totale Vernichtung“.

 

Iris Hanika Treffen sich zwei

Btb Verlag

240 Seiten, 9,90 Euro

Erstveröffentlichung 2008 im Droschl Verlag (Graz).

Die Kolumne ist zuerst im Büchermagazin (03_2011) erschienen und wurde für die Onlineversion leicht überarbeitet.


Iris Hanika, geboren 1962 in Würzburg, lebt seit 1979 in Berlin. Sie studierte dort Literaturwissenschaften und arbeitete bei den Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Mit ihrem Debüt Treffen sich zwei (2008) gelangte sie auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Es folgten weitere preisgekrönte Romane wie Das Eigentliche (2010), Tanzen auf Beton (2012), Wie der Müll geordnet wird (2015) und Echos Kammern (2020). Sie erhielt für Echos Kammern den Preis der Leipziger Buchmesse 2021.